Die 40 Jahre der Bewegung " ATD Quart Monde Luxemburg "

Feiert eine im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung engagierte Bewegung ihr 40jähriges Bestehen, so ist das grundsätzlich kein Fest der Freude. Auch in Luxemburg leben heute noch immer viele Menschen aufgrund von Armut und Misere unter inakzeptablen, die Menschenwürde untergrabenden Bedingungen.

Dennoch waren alle Bemühungen der Bewegung, die unentbehrliche Teilnahme der in Armut lebenden Personen für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft anzuerkennen und gemeinsam langfristige Projekte zu entwickeln, mit dem Ziel, niemand außen vor zu lassen, nicht umsonst und haben zu Änderungen in der Gesellschaft beigetragen.

« Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht. »

Dieses Zitat von Joseph Wresinki, dem Gründer der Bewegung in Frankreich in den Fünfziger Jahren, eingraviert in der Gedenkplatte am Trocadero in Paris, bleibt somit noch immer aktuell, selbst wenn die Gesellschaft immer stärker anerkennt, dass die Bewältigung von Armut nicht eine Frage der Wohltätigkeit, sondern eine Frage der Menschenrechte ist. Trotz dieser Anerkennung setzen sich die Antworten auf Armut und soziale Ausgrenzung noch viel zu oft aus provisorischen Maßnahmen und Hilfsleistungen zusammen, wie Jean Bouché, Präsident von ATD Quart Monde Luxemburg von 1993 bis 2004, in einem persönlichen Zeugnis erläutert:

« ...Und heute, vierzig Jahre danach? Ich glaube, dass der Zusammenhang zwischen Armut und Menschenrechten in unserer Gesellschaft prinzipiell anerkannt ist. Im Bereich der verschiedenen NROs gibt man sich große Mühe, indem man sich auf diese Rechte basiert. Im Bereich der Politik und Gesellschaft hingegen scheint es mir eher bloß politisch korrekte Sprache zu sein, man spricht davon, weil es zeitgemäß ist. Aber Sprechen und Handeln, das sind zwei verschiedene Aspekte, die meiner Meinung nach in Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Aus den Worten werden keine Konsequenzen gezogen. Es scheint mir, als ob unsere Gesellschaft im Grunde genommen vom Prinzip der Meritokratie geleitet wird: Jede und jeder ist verantwortlich für sein Glück, ohne dabei in Betracht zu ziehen, dass nicht alle dieselben materiellen, körperlichen und psychischen Voraussetzungen haben. Man ist einverstanden, den Armen zu helfen, sogar mit substantieller Hilfe, aber im Wesentlichen ändert man nichts an der Situation, man "lässt sie nicht zu Wort kommen", weder auf politischer Ebene noch auf gesellschaftlicher Ebene noch bei den Institutionen, bis auf einzelne Ausnahmen. »

     

Sich dafür einzusetzen, dass der Beitrag der in Armut lebenden Personen anerkannt wird, ist wesentlich im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung

Seit ihrer Entstehung hat sich die Bewegung auch der Herausforderung ihres Gründers gestellt, als er den Vierte-Welt-AktivmitgliederInnen versprach, « die Treppen des Elysee, des Vatikans und der Vereinten Nationen emporzusteigen ». Ende der Siebziger Jahre startet die Bewegung auf informelle Weise mit Aktionen der "Wissensteilung", wie zum Beispiel mit den Straßenbibliotheken. Sehr schnell, bereits im ersten Jahr der Gründung als "asbl", starten öffentliche Aktionen, wie u.a. eine Ausstellung zum Thema Menschenrechte im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission, ein Treffen mit dem zuständigen Kommissar für Arbeit und Soziales derselben Kommission, sowie die Teilnahme drei Jugendlicher an einem Treffen der internationalen Bewegung in Rom, das eine Begegnung mit dem Papst umfasst. Solche Gelegenheiten, um die Erfahrungen der Personen in schwieriger Situation und  ihren wesentlichen Beitrag im Kampf gegen Armut anzuerkennen, setzen sich im Verlauf der Geschichte dieser Bewegung fort.

Davon zeugt der Film « Niemand vergessen, zusammen überlegen, entscheiden und handeln gegen Armut », der anlässlich der 40 Jahre gedreht wurde.

 

Eine große Vielfalt - ein und derselbe Kampf

Die Gründung der « Université Populaire Quart Monde » im Jahr 1982 ermöglicht es den in Prekarität lebenden Familien, das Wort zu ergreifen, und bringt ein weiteres ehrgeiziges Ziel der Bewegung voran, nämlich im selben Kampf für eine gerechtere Gesellschaft BürgerInnen unterschiedlicher Herkunft zusammenzuführen: auf der einen Seite jene vom Leben geschwächten und von täglichen Problemen gezeichneten Personen, deren Wünsche und Bemühungen oft unverstanden bleiben, auf der anderen Seite jene Personen, die keine Erfahrung mit Armut und sozialer Ausgrenzung gemacht haben. Unterschiedlich aber auch in Bezug auf das Altersniveau, die familiäre und berufliche Situation, das Temperament und die Empfindlichkeit, sowie die Fähigkeiten und das Talent. Im Lauf der Jahre erweist sicht diese Vielfalt zum einen als Kraftquelle, zum anderen bringt sie gerade die große Herausforderung zum Ausdruck, die es im Täglichen zu bewältigen gilt. Ohne ihr Engagement wären viele dieser Menschen sich niemals begegnet und hätten sich auch nicht gegenseitig bereichern können. Trotz dieser Besonderheit sind die MitgliederInnen von gemeinsamen Überzeugungen angetrieben, die vielleicht manchmal mehr oder weniger bewusst, aber im kollektiven Engagement letztendlich immer präsent sind. Diese Vielfalt im Kern der Bewegung ist eins ihrer größten Reichtümer und « wir können alle stolz darauf sein ».

 

40 Jahre - zwei Höhepunkte der Mobilisierung und der Feier

In Verbindung mit dem Welttag zur Überwindung der Armut, dem 17. Oktober 2021, « feierte»  die Bewegung ihr 40jähriges Bestehen, und sie empfing dabei mit Freude Frau Corinne Cahen, Familienministerin, Herrn Maurice Bauer, Mitglied des Schöffenrats der Stadt Luxemburg, und noch weitere Persönlichkeiten, viele AktivmitgliederInnen, Verbündete sowie langjährige FreundInnen.

40 Jahre Engagement im Kampf gegen Armut und soziale Exklusion wurden anhand des Dokumentarfilms « Kee vergiessen, zesummen iwwerleeën, decidéieren an handelen géint d'Aarmut - Niemanden vergessen, zusammen überlegen, entscheiden und handeln gegen die Armut » Revue passieren gelassen. Der Film zeigt die vielseitigen Facetten der Bewegung und lässt die unterschiedlichen Personen, aus denen sie besteht, zu Wort kommen. Anschließend ergriffen zwei langjährige Aktivmitgliederinnen das Wort: Die eine bereicherte den festlichen Moment mit der Interpretation einer Erzählgeschichte und die andere gab Erklärungen zu ihrem handgefertigten Teppich anlässlich der 40 Jahre. Eine  Ausstellung mit Werken, die von MitgliederInnen der Bewegung realisiert wurden, dokumentierte die Kreativität der letzten Jahre. Bevor der Geburtstagskuchen von Edith Jacobs, eine der Gründerinnen der Bewegung,  angeschnitten wurde, legte man eine Schweigeminute bei der "Table de la Solidarité" ein, wo sich eine Replik der Gedenkplatte vom Trocadero in Paris befindet, und somit gedachte man der Opfer der Misere weltweit.  Für die musikalische Umrahmung sorgte der Chor Home Sweet Home & Friends, ein Chor der aus SängerInnen mit ganz unterschiedlichen Lebenshintergründen besteht.

Das zweite Ereignis in Bezug auf die 40 Jahre war das Rundtischgespräch « Firwat dauert d'Aarmut iwwer Generatiounen ewech un? » am 1. Dezember. Das Fortbestehen der Armut über Generationen hinweg ist einer der Aspekte im Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, der auch nach Jahren des Engagements noch viele Fragen aufwirft.

Anfang des Jahres bot sich für einige MitgliederInnen der Bewegung die Chance einer Zusammenarbeit mit Olivier de Schutter, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für extreme Armut und Menschenrechte, zur Erstellung seines Berichts über extreme Armut, den er im Rahmen der UN-Generalversammlung im Oktober 2021 vorstellte. 

Um dem Wunsch nachzukommen, dass diese umfangreiche Reflexionsarbeit, die im Rahmen des Partizipativen Dialogs mit dem Berichterstatter entstanden ist, auch verbreitet und einem größeren Publikum zugänglich wird, waren zu diesem Abend eine Vielzahl von Gästen eingeladen: mehrere Vertreter aus dem luxemburgischen Sozialbereich, ein Vertreter der internationalen Bewegung, der maßgeblich an der Vorgehensweise des Partizipativen Dialogs beteiligt war, Aktivmitglieder, Verbündete sowie Freiwillige aus Luxemburg und Belgien, die zum Thema ihre Überlegungen beitrugen, Fachleute, Freunde und viele andere.

Der Abend begann mit einem kurzen Film, der die großen Themen der während des Partizipativen Dialogs von den Aktiv-Mitgliedern geleisteten Beiträge aufgriff.

Danach folgte die Debatte mit dem Publikum, während der die Gäste, ausgehend von den jeweiligen Fragen der Moderatorin, ihre Erfahrungen und Überlegungen teilten.

Der Austausch zeigte die Komplexität der Frage und die Notwendigkeit, diesen Dialog zu vertiefen. Es gilt, dranzubleiben …!

 

Die Zukunft

Diese Herausforderung, d.i. das Fortbestehen der Armut über Generationen hinweg besser zu verstehen, und noch viele weitere erwarten die MitgliederInnen der Bewegung. Bleibt zu wünschen, dass sie die Kreativität, den Mut und die Energie bewahren, die für das Vereinen ihrer Kräfte zwecks Schaffung einer besseren Welt nötig sind! Dass die Bewegung in 40 Jahren in Luxemburg keine 80 Jahre feiern muss!